ein neuer Anfang

Freitag 14:00h gehe ich durch die Tür unserer Kita zum Förderplangespräch. Tilli ist seit September hier und seine Welt hat sich seitdem drastisch verändert.

Seine zwei Erzieherinnen begrüßen mich herzlich und bringen mich in den Besprechungsraum. Es schwebt viel Aufregung im Raum. Tillis Haupterzieherin ist noch verhältnismäßig jung. Ich glaube, sie weiß gar nicht, was sie bis hierhin schon für Tilli und uns geleistet hat. Vermutlich hätten sich andere Mütter gegen sie entschieden, hätten jemand mit mehr Erfahrung gewollt. Mein Bauchgefühl hat allerdings recht behalten. Sie hat einen guten Blick für die Kinder ihrer Gruppe und im Hintergrund ein Netz aus Kompetenz und Feedback, dass mir die nötige Sicherheit gibt, hier in guten Händen zu sein.

„Ich bin ganz schön nervös“, sagt sie, während wir auf die Kitaleitung und die Heilpädagogin warten. „Echt? Ich freu mich drauf.“ „Na dann ist´s ja gut“, lacht sie und wir lachen alle bevor wir ein wenig über Tilli, das Bauchwunder und unseren anstehenden Umzug sprechen. Als sich nach ein paar Minuten alle Beteiligten am Tisch versammelt haben, atmet sie noch einmal tief durch und gibt ganz offen zu, dass sie hofft das gut gemacht zu haben. Doch da bin ich mir bereits sicher.

„Wie du ja weißt, mache ich derzeit noch die Weiterbildung zur heilpädagogischen Fachkraft, und habe mir gedacht, wir wenden das theoretische Wissen mit dir gemeinsam praktisch an. Deshalb haben wir da mal was für dich vorbereitet, was du jetzt ausprobieren kannst.“ „Ok, jetzt bin ich nervös“, sage ich lachend und während alle mitlachen, lockert sich die Anspannung spürbar. Die beiden sind unheimlich gut vorbereitet. Es werden neun kleine Astscheiben auf dem Tisch platziert. Sie sind beschriftet mit den Bereichen in denen Tillmann heute beurteilt wird. „Und da es ja um Tillmann geht, kommt er in die Mitte“, sagt sie und legt ein Bild vor mir auf den Tisch, auf dem mein Kind mich mit im Kinetic-Sand vergrabenen Händen glücklich anstrahlt. Ich merke, wie ich kurz dünnhäutig werde. Wie sehr wir an diesem Tisch, wir als Familie und die Gesellschaft da draußen einen Anteil und einen Einfluss darauf haben, wie gut es Tilli geht. Und ich sehe wie sehr er mit seinem Strahlen einen Einfluss auf mich und alle hat, denen er begegnet. Ich muss schlucken, bevor ich die einzelnen Teilbereiche durch Entfernung zu Tillis Lächeln als Ressource oder Ziel einstufen soll.

Bereich für Bereich stelle ich mir Tilli vor, sehe was er kann und was noch schwerfällt. Gemeinsam benennen wir alles was uns an ihm und seinen Möglichkeiten auffällt. Bei Lernen & Wissensanwendung sehen wir ihn trotz vorhandener Defizite nah dran, ebenso bei Aufgaben & Anforderungen, während die Kommunikation nach wie vor eine große Baustelle ist. Sie hat ein Fundament und Tilli will, nur zum Können ist es ein weiterer Weg als in anderen Bereichen. Mobilität steht außer Frage, während die Selbstständigkeit noch ein sehr begleiteter Prozess ist. So gehen wir alles durch, bis vor uns ein Bild von Tilli entsteht, welches so ganzheitlich diesen kleinen individuellen Menschen erfasst, dass ich es lange betrachten muss.

Ich höre mir an, was seine beiden Erzieherinnen im Förderplan niedergeschrieben haben. Und ich höre, was sie nicht schreiben konnten und sich doch aus allen Leerzeichen herausliest. Dass Tilli ein Kind voller Potenzial ist, an dessen Zielen sie aktiv teilhaben wollen. Er ist ihnen wichtig und das nicht nur, weil sie ihn ins Herz geschlossen haben und er ein verdammter Charmeur ist. Sie sind ebenso professionell wie menschlich. Sie sind seine größte Chance auf ständiges Lernen, Wertschätzung und Sicherheit. Und egal wie oft ich Danke sage, drückt es nur kümmerlich aus, wie wertvoll sie für ihn und uns sind.

Seit Tilli dort ist, nimmt er an großen Gruppenveranstaltungen teil, ohne sofort zu flüchten. Er integriert sich und wird integriert in eine Kindergruppe, der man ebenso viel Toleranz bietet, wie man sie von ihr fordert. Er ist tagsüber trocken. Er kann einfache Aufgaben wie den Tischdienst mit Motivation selbst gut meistern. Er bringt sich zum Ausdruck und hat das Vertrauen darin, das auch immer mehr verbal zu versuchen. Er ist ausgeglichen und findet sich zu Hause immer besser in seine Rolle als großer Bruder ein. Er bastelt und malt mit Anleitung und Geduld tolle Dinge, selbst wenn die manchmal auf dem Nachhauseweg einem jähen Zerstörungsdrang zum Opfer fallen.

Er wird definiert durch sein Handeln und seine Art, während seinem Extra-Chromosom nur die Randnotiz zufällt, dass man weiß mit was man vielleicht rechnen muss. Ohne zu erwarten wie er sich verhält.

Nach anderthalb Stunden sind wir uns einig. Es liegt ein Förderplan vor mir, der unheimlich nah an meinem Kind dran ist. Das ist nicht selbstverständlich. Für mich ist er ein Geschenk, ebenso wie für Tilli.

Wenn ich die Vermessenheit besäße einen allgemeinen Rat an Eltern von Kindern mit Förderbedarf zu geben, wäre es dieser: Fachwissen, ist die eine Seite der Medaille. Ergebnisoffen eurem Kind gegenüber zu sein, allen Herausforderungen zum Trotz und mit Neugier und Hingabe das Beste geben zu wollen, weil es jedes Kind wert ist, das ist es was aus einer guten Fachkraft und fundiertem Hintergrund eine wirkliche Unterstützung macht.

4 thoughts on “ein neuer Anfang

  1. Ich bin selbst Sozialpädagogin und mein Berufsherz geht auf, wenn ich solche Erfahrungen lese. Es ist so wichtig, genau so mit allen Kindern (egal ob mit extra oder ohne) zu kommunizieren und umzugehen. Ihr macht das einfach toll und ich wünschte mir für viele Eltern solch eine Stärke. So eine nahbare Stärke ♡

    1. Ich danke dir für das Kompliment, wobei ich den Löwenanteil wirklich im Potenzial der Menschen sehe, die mit unserem Kind arbeiten. Sie prägen sein Leben, während wir die Freiheit haben zu arbeiten. Das Zusammenspiel ist einfach alles 🙂

  2. Da sind mir jetzt fast die Tränen gekommen. Das hört sich sooo gut und richtig an. Ihr könnt euch glücklich schätzen. Meine Tochter ist schwer mehrfachbehindert und 27 Jahre alt. In ihrer Schulzeit habe ich so oft gesehen, dass die Sonderpädagogen so gar nichts von ihr verstanden haben. Auch bei anderen Kindern habe ich das beobachtet und von Eltern berichtet bekommen. Trotz ihrer schweren Behinderung hat sie oft zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht mehr zur Schule gehen will. Das war sehr schlimm. Erst in der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen ist sie jetzt seit 9 Jahren endlich gut aufgehoben und wird richtig gesehen und geschätzt. Ein großes Glück!
    Ich wünsche euch weiterhin einen so guten Weg für Tilli und immer Menschen an seiner Seite , die ihn so gut fördern und lieben.
    Liebe Grüße, Doris mit Annika

    1. Liebe Doris und liebe Annika,
      auch wenn deine Erfahrung mich zutiefst traurig macht, ist es auch in unserem Umfeld keine Seltenheit. Umso mehr freue ich mich für Annika, dass sie nun einen Ort hat, an dem es ihr offenbar so gut geht. Vielen Dank für deine lieben Wünsche. Alle Liebe für euch, Ini

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