Baiersbronn – Das erste Mal

Die Entscheidung nach Baiersbronn zu fahren fiel nach reiflicher Überlegung. Die Therapie ist freiwillig. Selbst wenn die Krankenkasse eine Kostenübernahme zusagt, ist das Angebot keines, dass zwingend erforderlich ist.

Tillmann ist seit seinem 8. Lebenstag in therapeutischer Behandlung. Das Begann bereits in der Uniklinik mt Physiotherapie nach Bobath und Atemtherapie. Es folgten bei der heimischen Physio Behandlung nach Bobath, Voijta und im Wasser, Heilpädagogik durch die Frühförderung und seit seinem 2. Lebensjahr Logopädie.

Die Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu beschreiben ist schwer. Denn ich werde nie beurteilen können, ob etwas zu früh oder zu spät begann. Was jedoch klar für mich zu sehen ist, ist das Potenzial, das Tilli vom ersten Atemzug an gezeigt hat. Er hat Kraft, einen starken Willen und das unbedingte Bedürfnis mit den Menschen seines Umfelds in Beziehung zu stehen. Sein großes Herz und die Empathie, welche wir erst heute in vollem Umfang erkennen, sind dabei sicherlich die größten Antreiber.

Eine zusätzliche Intensivtherapiewoche mit ihm zu machen, hatte seinen guten Grund. Tilli hat eine verbale Entwicklungsdyspraxie. Umgangssprachlich erklärt, kann ich mich mit ihm normal unterhalten. Sein Sprachverständnis liegt bei nahezu 100%. Widerum kann Tilli selbst zwar die Entgegnung denken, die er mir mitteilen will, doch weder seine Zunge, noch sein Gaumensegel, die Wangen, die Lippen und der Atem sind in einem kontrollierten Zusammenspiel in der Lage es auszusprechen. Es geht schlicht und ergreifend nicht. Die Ansteuerung eines für uns völlig normalen komplexen Ablaufes, ist für ihn harte Arbeit. Es fällt schwer mir vorzustellen, was das im Umkehrschluss für Tilli bedeuten muss. Wie es sein muss, wenn dir gefühlt etwas den Mund zuhält und die Welt das was du zu sagen hast nicht verstehen kann. Doch anhand dessen wieviel Frust manchmal in ihm aufwallen kann, ist es für uns alle spürbar.

Wir haben mittlerweile die dritte Logopädin. Sie ist die erste, bei der ich das Gefühl habe, dass auch sie von Anfang an das Potenzial, das in ihm schlummert, sehen kann. Genau so geht sie nämlich mit ihm um. Fordernd, sich seiner Fähigkeiten und Schwächen bewusst. Doch weil das über andertahalb Jahre in Therapie anders lief, suchten wir nach zusätzlicher Hife. Und hofften Sie in Baiersbronn gefunden zu haben.

Als wir nach 1 1/2 Jahren nach der Anmeldung im idyllischen Dorf im Schwarzwald ankommen, sind wir alle recht erledigt. Wir besorgen uns den Schlüsel zur Ferienwohnung direkt im Therapiezentrum. Bei dessen Betreten fällt mir, nach allem was ich bereits an Für und Wider in Foren gelesen habe, eines sofort auf: eine warmherzige Kutlur des „So-sein-dürfens“, die alle Hektik und den Stress der Eltern und Kinder überwiegt. Ich nehme mir erneut vor, dass ich wertungsfrei an alles herangehe und gemeinsam mit Tilli sehen werde, ob es etwas für uns ist. Sollte es das nicht sein, gehen wir einfach und haben es versucht.

Montag starten wir mit einer Anamnese. Eine junge Ergotherapeutin nimmt uns freundlich in Empfang. Wir gehen in einen der hellen und freundlichen Therapieräume und es dauert genau eine Sekunde, bis Tilli erfasst hat, dass er hier ist, weil man etwas von ihm will. Was auch die nachfolgende Handlung erklärt. Tilli geht schnurstracks zurück zur Tür. Die Therapeutin lacht, lockt ihn zurück in den Raum und fragt mich postwendend, ob Tilli ein Flüchter sei. Und während ich noch nicke, geht sie völlig selbstverständlich zur Tür und stellt einen Stuhl davor, auf den ich mich setzen soll, während wir die Anamnese durchgehen. Mir ist klar, dass wir damit kein Einzelfall sind. Ihr ist klar, dass ich dennoch gehen werde, wenn mir alles hier zu sehr nach Zwang aussieht. Und Tilli ist klar, dass er hier vorerst nichts zu melden hat. Scheint aber dank Sprossenwand und allerhand Therapiespielzeug weniger problematisch zu sein.

Ich werde nach dem Abfragen seiner Meilensteine der motorischen und kognitiven Entwicklung relativ umfassend zu Verhaltensweisen befragt. Wie reagiert Tillmann auf Stress? Was macht er, wenn ihm etwas zu viel wird? Wie versucht er Therapien zu entgehen? Und sie klärt mich darüber auf, was uns erwartet. Jeden Tag drei Einheiten. Zwei die Ergotherapie und Physio nach dem Padovan Konzept enthalten und einen festen Ablauf von aufeinander aufbauenden Turnübungen und das Durcharbeiten der sogenannten Mundtüte enthalten. Eine Einheit widmet sich voll und ganz der Logopädie. Man wird Tillmann zu nichts zwingen, ihm nicht wehtun, aber man wird seine Mitarbeit einfordern. Ich soll mich darauf gefasst machen, dass die neue Umgebung, das Einfordern der Übungen und die hohe Taktung der Einheiten uns viel abverlangen. Und das es auch meine Mithilfe benötigt erfolgreich therapieren zu können. Gesagt getan. Sie holt sich Tilli ran, der durch die Nichtbeteiligung am Geschehen ziemlich entnervt zu sein scheint. Alles an ihr ist liebevoll. Sie lacht ihn an, geht bei jeder Forderung liebevoll, aber mindestens doppelt so konsequent an ihn heran. Während jeder Bewegung wird gesungen und gelobt, sobald er auch nur das geringste Bisschen an Kooperation aufweist. Doch die ist gering. Tillmann bringt seine ganzen 14,5kg Körpergewicht und den Willen für zehn auf, den er besitzt, um klar zu machen wie er das findet. Dabei reden wir hier von wirklich einfach Turnübungen, die er, würde er sich frei dafür entscheiden, in wenigen Minuten abgehandelt hätte.

Es ist ein Kampf und immer und immer wieder kommt er zu mir, lässt seine Wut raus, sich trösten, um letzten Endes in seiner Protesthaltung zu bleiben. Für uns beide ist das nicht neu. Was es nicht schöner macht. Das sind die Momente in denen ich dem zusätzlichen Chromosom keinen Mehrwert abgewinnen kann. Weil ich sehe, was es ihn kostet und wie hart es unsere Beziehung auf die Probe stellt. Für Dinge, die seinen Geschwistern von der Natur geschenkt werden. Es bricht mir das Herz und lässt mich trotz der wirklich unfassbar guten therapeutischen Leistung zweifeln.

Als wir mittags erneut zur Therapie aufbrechen, zeigt sich Tilli erfreut. Er läuft mir voraus, mag den Fahrstuhl und weiß genau, wo er sich auszuziehen hat. Alles scheint halb so wild. Bis sich die Tür zum Therapieraum erneut hinter uns schließt. Turnen voller Gegenwehr, Verweigerung bei den Tröten, Trink- und Kauschläuchen der Mundtüte, unterbrochen von Wutausbrüchen, Trösten, Lachen, wenn er merkt, dass er nicht mehr gefordert wird. Es ist als würde man in ihm einen Schalter an- und ausmachen. Tilli wartet bei jedem Wutanfall auf meine Reaktion, ob ich abbreche, oder ihn von der Tür zurück zur Therapeutin bringe, um fortzufahren. Was widerum mich fordert. Ich bleibe ruhig. Motiviere ihn. Bin für ihn da. Er kann es nicht sehen, doch gefühlt kämpfen wir den gleichen Kampf und er ringt uns beiden alles ab, was wir an Energie zu geben haben.

Am Nachmittag betreten wir zum letzten Mal an diesem ersten Tag das Zentrum. Wieder läuft Tilli gut gelaunt voraus, zieht sich Schuhe, Jacke, Schal und Mütze aus und wartet auf den Fahrstuhl, der ihn an einen Ort bringen wird, der all das wert ist. Am Empfang im Dachgeschoss wird Tilli bereits erwartet. Unsere Logopädin hat so viel Freundlichkeit und Aufmerksamkeit in ihrer Stimme, dass selbst Tilli nicht gleich auf Durchzug stellt. Sie ist fokussiert, klärt in wenigen Sätzen mit mir auf dem Weg zum Therapieraum ab, was sie wissen muss, setzt Tilli auf einen Stuhl und widmet sich voll und ganz ihm. In 35 Minuten sehe ich Tillmann Dinge tun, von denen ich vorher nur geglaubt hatte, dass er sie könnte. In einer für Tilli ebenso fordernden wie unterhaltsamen Art, wechselt sie mit Tilli zwischen spielerischen Aufgaben und logopädischen Lautübungen. Insgesamt 10 Übungen meistert er mit Bravour! Ich bin so stolz auf ihn, dass ich schweigend dem kleinen großen Jungen zusehe, der trotz schlechter Voraussetzungen in der Lage ist Unglaubliches zu leisten. Mir steigen Tränen in die Augen, während er sich über die überbordende Bestätigung durch seine Logopädin freut. Mein Herz ist so randvoll mit Liebe für ihn, dass es mich sprachloser macht als ihn. Nachdem die Sitzung beendet ist, wechseln wir nur noch ein paar Worte. „Tillmann ist unfassbar clever!“, und was wie ein großes Lob klingt, ist die Erklärung für die Anstrengung der Tage die noch kommen und uns fast zum aufgeben bringen werden.

Fortsetzung folgt…

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